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Kommentar

Sind die dauernden Leitzins-Erhöhungen ein Fehler?

Die Europäische Zentralbank und US-Notenbank haben die Leitzinsen erneut erhöht. Ist das überhaupt noch richtig? Und was bedeutet das für Dich? Das erklärt Dir heute unser Co-Gründer und Kapitalmarktexperte Robert Haselsteiner.

Trotz fallender Inflationsraten hat sich die US-Notenbank FED entschieden, den Leitzins auf nunmehr 5,25 bis 5,50% anzuheben. Das ist der höchste Zinssatz seit 22 Jahren. FED-Chef Jerome Powell traut den sinkenden Inflationsdaten noch nicht. Er sieht weiterhin einen festen Arbeitsmarkt und damit eine zu hohe Kerninflationsrate. Zudem erwartet der oberste Banker trotz der massiv gestiegenen Zinsen keine Rezession in den USA und will daher wachsam bleiben. 

Offene Fragen rund um die Zinsentwicklung in den USA
Die Gründe für die Zinsentscheidung der amerikanischen Notenbank sind zwar nachvollziehbar. Aber es bleiben auch Fragen offen: Ist der bisherige Rückgang der Inflation überhaupt ein Resultat der starken Anhebungen der Leitzinsen? Oder ist diese Entwicklung auf andere Gründe zurückzuführen – wie die Entspannung bei den globalen Lieferketten, den Abbau der knappen Lagerbestände oder die Wachstumsschwäche in China? 

Anders gefragt: Kommen die Folgen der Zinsanhebungen erst noch auf uns zu und treiben uns dann vielleicht sogar in eine Phase sinkender Preise (Deflation)? Und drohen den Notenbanken bei den Zinsanhebungen dann ähnliche Überraschungsmomente wie beim Ketchup-Effekt der Nullzinspolitik? 

Die Nullzinspolitik schoss über das Ziel hinaus
Erinnern wir uns: Vor nicht allzu langer Zeit waren die Notenbanken damit beschäftigt, eine Deflation um jeden Preis zu verhindern. Auf Teufel komm raus druckten sie deshalb Geld und senkten die Leitzinsen bis in negatives Terrain. Die Notenbanken wollten damit Inflation „erzeugen“, um von Null auf die Zielmarke von 2% für die Inflation zu kommen. 

Dieses Experiment ging deutlich schief. Denn die Inflation kam, stoppte aber nicht wie gewünscht bei 2%, sondern stieg gleich weiter auf 10%. Nach Aussage der Notenbanker war dafür aber nicht die Geldpolitik verantwortlich, sondern Sondereffekte wie der Ukraine-Krieg sowie hohe Energie- und Lebensmittelpreise.

Wenn aber die ultralockere Geldpolitik nicht an der Entstehung der Inflation beteiligt war, warum sollte dann jetzt eine restriktive Geldpolitik die Inflation auf das richtige Maß senken? Oder könnte es sein, dass wieder „Sondereffekte“ auftauchen werden, die die Notenbanker nicht vorausgesehen haben?

Verbraucher und Unternehmen sind betroffen
In jedem Fall beeinflusst die Zinspolitik der Notenbanken die Kapitalmärkte, Immobilienmärkte und das Investitionsverhalten der Unternehmen massiv. Die Nullzinsen haben diese Märkte boomen lassen. Die klaren Bremsspuren, die die gestiegenen Zinskosten in diesen Märkten hinterlassen, sind bereits zu sehen. Spätestens, wenn das Geld ausgegeben ist, das die Regierungen in der Pandemiezeit in Form von Haushaltsstützungen, Sonderkreditprogrammen und direkten Geldgeschenken an die Bürger und die Unternehmen verteilt haben, könnte es ein böses Erwachen geben. 

Die Rezession, die in Deutschland schon jetzt zu spüren ist, könnte überall auftauchen. Dann würden die Notenbanken wieder auf dem falschen Fuß erwischt. All das ist nicht gut für die Glaubwürdigkeit und Effektivität der Notenbanken und ihrer Politik.

Zinserhöhung der EZB um 0,25 Prozentpunkte
Die Europäische Zentralbank hat am 27. Juli 2023 eine weitere Anhebung der Leitzinsen beschlossen. Der wichtigste Leitzins stieg auf 4,25% Die EZB sitzt damit im selben Boot wie die US-Notenbank. Auch EZB-Chefin Christine Lagarde hat das Hohelied der Inflationsbekämpfung über Leitzinsanhebungen angestimmt. Sie nimmt damit offensichtlich in Kauf, dass im Zuge dieses Zinsschocks die Aktivitäten am europäischen Immobilienmarkt zusammenbrechen und die Nachfrage der Unternehmen nach Investitionskrediten drastisch zurückgeht. 

Im Euro-Raum droht eine Rezession
Diese Haltung wäre nur dann verständlich, wenn es erklärtes Ziel wäre, die Wirtschaft in eine Rezession zu führen. Aber das ist eben nicht das erklärte Ziel. Offiziell sprechen die Notenbanker von einer sanften Landung (einem Soft Landing), die sie anstreben und auch für wahrscheinlich halten. Doch als Beobachter sieht man sich eher an einen Autofahrer erinnert, der meint, Tempo 120 sei auf einer kurvenreichen Strecke okay, denn schließlich könne er die erste Kurve gut einsehen und die ist gar nicht so eng. Ob die Einschätzungsfähigkeit und die Prognosemodelle der Notenbanken wirklich ausreichen, um zu erkennen, dass die gewählte Geschwindigkeit vielleicht doch nicht passt, kann man zumindest hinterfragen. Das Ziel „Erzeugung einer 2%-Inflationsrate“ ist jedenfalls kräftig schief gegangen.

Eine Pause bei den Zinserhöhungen wäre sinnvoll
Wir hielten es daher für angebracht, wenn US-Notenbank und EZB die nächsten Monate die Zinsen nicht weiter erhöhen würden. So ließe sich in Ruhe beobachten, wie sich die Realwirtschaft tatsächlich entwickelt. Die Erfahrungen der eigenen Übertreibungen in der Nullzinsphase sollten den Notenbankern Warnung genug sein, nicht nochmals töricht über das Ziel hinauszuschießen. Bisher blieben zwar die langfristigen Kapitalmarktzinsen recht stabil und auch die Aktienmärkte haben die Zinserhöhungen gut verarbeitet. Das könnte sich aber schnell ändern, wenn die US-Notenbank plötzlich die Leitzinsen Richtung 6 bis 7% treibt. 

Verbraucher sollten verhandeln
Unser Rat für Verbraucherinnen und Verbraucher bleibt klar: Sie sollten mit ihren Banken hart um gute Konditionen bei Spargeldern und Termingeldern verhandeln. Wie viel Zinsen die Banken beim Tagesgeld und Festgeld zurzeit bieten, steht tagesaktuell bei Finanztip:

Zum Tagesgeld-Rechner

Zum Festgeld-Rechner

Beim Immobilienkauf gilt weiterhin, hart zu verhandeln. Was die Zinsen angeht, hilft der Vergleich bei einem der großen Baufinanzierungsvermittler. Weil es um große Summen und lange Fristen geht, zählt jedes Zehntelprozent beim Zinssatz. Auf welchem Niveau die aktuellen Bauzinsen gerade liegen, steht ebenfalls bei Finanztip: Zum Ratgeber.

(rha)
 

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