Scha­dens­er­satz­an­spruch für VW-Aktionäre, Musterverfahren Diesel-Abgasskandal: Das steht Dir als Anleger zu

Expertin für Recht - Dr. Britta Beate Schön
Dr. Britta Beate Schön
Finanztip-Expertin für Recht

Das Wichtigste in Kürze

  • Nach dem Bekanntwerden des Diesel-Abgasskandals brach der Börsenkurs der VW- Aktie ein. Wahrscheinlich hat der Konzern den Kapitalmarkt zu spät informiert. Das kann Scha­dens­er­satz­an­sprü­che auslösen.
  • VW- und Porsche-Aktionäre konnten sich zum Musterverfahren anmelden, um kostengünstig ihre Ansprüche vor Gericht klären zu lassen.
  • Seit dem 10. September 2018 läuft die mündliche Verhandlung vor dem Oberlandesgericht Braunschweig – durch die Corona-Pandemie verzögert sich das Verfahren. Weitergehen soll es im März 2022.
  • Es ist noch nicht absehbar, wann ein Urteil zu erwarten ist.

Der VW-Skandal betrifft nicht nur VW-Käufer, sondern auch VW-Aktionäre. Obwohl sich der Kurs der Volkswagen-Stammaktie (WKN 766400) wieder erholt hat, bleibt ein Verlust seit Bekanntwerden des Abgasskandals. Aktionäre können unter Umständen verlangen, den Kursverlust von VW ersetzt zu bekommen, weil das Unternehmen gegen Mitteilungspflichten nach dem Wert­pa­pier­han­dels­ge­setz verstoßen hat.

Beim Landgericht Braunschweig erhoben rund 1.600 Kapitalanleger Einzelklagen gegen Volkswagen. Der Streitwert beläuft sich insgesamt auf etwa 9,5 Milliarden Euro. Die Klagen sind derzeit ausgesetzt, weil auf das Ergebnis des Musterverfahrens beim Oberlandesgericht Braunschweig gewartet wird.

Welche Rechte haben VW-Aktionäre?

Bestätigt sich der Verdacht, dass VW die Öffentlichkeit zu spät über manipulierte Abgaswerte und die Folgen informiert hat, dann ist dies ein Verstoß gegen gesetzliche Informationspflichten nach dem Wert­pa­pier­han­dels­ge­setz. Für diesen Fall sieht das Gesetz für Anleger Scha­dens­er­satz­an­sprü­che vor (§ 97 WpHG).

Ad-hoc-Mitteilung

Börsennotierte Unternehmen müssen die Öffentlichkeit schnell und umfassend über Insiderinformationen aufklären und zwar unverzüglich oder ad hoc. Dabei geht es um Infos, die auf den Preis der Aktie unmittelbar einwirken können (Kursrelevanz).

Volkswagen informierte die Öffentlichkeit erst am 22. September 2015 über die Manipulationssoftware und die Rückstellungen in Höhe von 6,5 Milliarden Euro für notwendige Nachbesserungen. Hier der Link zur ad-hoc-Mitteilung.

Das war aus Sicht der Kläger zu spät: Hatte VW bereits im Mai 2014 Kenntnis von den Bedenken amerikanischer Behörden, hätte der Konzern dazu unverzüglich eine Ad-hoc-Mitteilung machen müssen. Zu diesem Zeit­punkt wurde eine Studie der West Virginia University veröffentlicht, in der überhöhte Emissionswerte festgestellt wurden.

Das Oberlandesgericht Braunschweig wird im Rahmen des Musterverfahrens klären, was die Meldepflicht auslöste: das Bekanntwerden der systematischen Manipulationen oder bereits die Ermittlungen der amerikanischen Behörden.

Betroffene VW-Aktionäre

Es ist unklar, welche VW-Aktionäre Schadensersatz verlangen können. Es gibt folgende Auffassungen: 

  • Nur diejenigen haben sicher einen Anspruch, die nach dem 3. September 2015 VW-Aktien gekauft haben. 
  • Jeder Anleger kann Ansprüche geltend machen, der zum Zeit­punkt der Bekanntgabe der Abgasmanipulation am 20. September 2015 Inhaber einer VW-Vorzugs- oder Stammaktie war. 
  • Anleger, die Aktien zwischen dem 6. Juni 2008 und dem 17. September 2015 gekauft haben, können Ansprüche geltend machen.

Fest steht: Aktionäre haben einen Anspruch auf Schadensersatz, wenn sie zu einem Zeit­punkt Aktien gekauft haben, als Volkswagen schon eine ad-hoc-Mitteilung hätte machen müssen und dies unterlassen hat. Grund: Sie haben zu einem nicht marktgerechten, zu teuren Kurs gekauft. 

Höhe des Schadensersatzes pro Aktie

Verschiedene Anwälte gehen mindestens von einem Schadensersatz zwischen 54 und etwa 60 Euro pro Aktie aus. Im Rahmen des Musterverfahrens wollen die Kläger feststellen lassen, dass der Schaden mindestens 59,50 Euro beträgt – je VW-Vorzugsaktie, die am 22. September 2015 gehalten wurde (LG Braunschweig, Beschluss vom 5. August 2016, Az. 5 OH 62/16, Seite 17).

Wie ist der aktuelle Stand der VW-Musterklage für Aktionäre?

Viele Kapitalanleger hatten selbst Klage auf Schadensersatz erhoben. Für Aktionäre, die nicht selbst klagen wollten, war die Teilnahme an einem Musterverfahren die kostengünstige Alternative. Die Regelungen zu dem besonderen Verfahren finden sich im Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG).

VW-Musterverfahren vor dem OLG Braunschweig

Im Sommer 2016 veröffentlichte das Landgericht Braunschweig den Beschluss, dass die Rechtsfragen rund um den Dieselskandal und dessen Auswirkungen auf die VW-Aktie in einem Musterverfahren vor dem OLG Braunschweig einheitlich geklärt werden sollen (Az. 5 OH 62/16).

Am 8. März 2017 hat das Gericht aus allen Klägern die Deka Investment GmbH als Musterkläger ausgewählt (Az. 3 Kap 1/16). Betroffene Anleger konnten sich bis zum 8. September 2017 anmelden (§ 10 Abs. 2 KapMuG), wovon knapp 2.000 Anleger Gebrauch gemacht haben.

Am 10. September 2018 fand in Braunschweig der Auftakt für die mündliche Verhandlung statt. Eine schwierige Rechtsfrage lautet: Muss ein Vorstandsmitglied vom Einsatz der Abschaltautomatik gewusst haben oder reicht es, dass ein leitender Mitarbeiter von VW hiervon gewusst hat? Volkswagen weist bisher alle Vorwürfe zurück. Der Vorstand habe nichts von den Manipulationen gewusst, die eine kleine Gruppe von Ingenieuren organisiert habe. Bisher fanden zehn Verhandlungstage statt.

Am bisher letzten Verhandlungstag im September 2020 stellte das Gericht klar, dass das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH), das den VW-Käufern mit dem Motortyp EA 189 Schadensersatz  wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung zusprach, nicht ohne Weiteres auf die Aktionäre übertragbar sei. 

Aufgrund der Corona-Pandemie musste das Gericht viele Termine aufheben, zuletzt alle Termine im April. Wegen des überraschenden Todesfalls von des Klägeranwalts Andreas Tilp hat das Gericht auf Antrag des Musterklägers sämtliche Termine im Jahr 2021 aufgehoben.

In einem Hinweisbeschluss vom 18. November 2021 hat das Gericht Hinweise für den weiteren Verfahrensablauf gegeben. Der Senat geht davon aus, dass die Entscheidung zum Einbau von unzulässigen Ab­schalt­ein­richt­ungen in Fahrzeuge für den US-amerikanischen Markt bereits im Jahr 2008 eine Insiderinformation darstellte, die dem Kapitalmarkt durch eine Ad-hoc-Mitteilung hätte bekannt gegeben werden müssen. Ob sich daraus Scha­dens­er­satz­an­sprü­che für Anleger ergeben, hängt bis zum 9. Juli 2012 vor allem davon ab, ob ein Vorstandsmitglied der VW AG Kenntnis von der Manipulation hatte. Für die Zeit­punkte danach muss die VW AG beweisen, dass das Unterlassen der Mitteilung durch den Vorstand weder vorsätzlich noch grob fahrlässig war.

Die mündliche Verhandlung soll voraussichtlich im März 2022 fortgeführt werden.

Es ist noch nicht absehbar, wann ein Urteil zu erwarten ist. Finanztip beobachtet das Verfahren vor dem Oberlandesgericht, aktualisiert regelmäßig diesen Ratgeber und informiert darüber in seinem Finanztip-Newsletter.

Musterverfahren für Porsche-Aktionäre

Es sollte ursprünglich ein weiteres Musterverfahren zum VW-Abgasskandal geben: in Stuttgart gegen Porsche (Az. 22 AR 1/17 Kap). Denn die Porsche Automobil Holding SE hält 52 Prozent der Stimmrechte an der Volkswagen AG. Sie ist als Holdinggesellschaft verpflichtet, auch über Vorgänge der Volkswagen AG zu berichten, die den Aktienkurs beeinflussen können. Dies sei in dem VW-Abgas-Skandal nicht rechtzeitig geschehen.

Mit Beschluss vom 15. Juni 2018 hat das OLG Braunschweig das laufende Musterverfahren gegen die Volkswagen AG auf die Porsche Automobil Holding SE als weitere Musterbeklagte erweitert. Porsche-Aktionäre konnten sich bis zum 15. Dezember 2018 dem Musterverfahren anschließen.

Wann verjährten die Ansprüche der Aktionäre?

Über die Frage der Verjährung sind sich die Experten uneinig. Einige gehen davon aus, dass Aktionäre rechtzeitig gehandelt haben, die bis zum 19. September 2016 Klage gegen VW eingereicht haben. Die meisten sind der Auffassung, dass sich Betroffene bis zum 31. Dezember 2018 Zeit lassen konnten.

Grund für die unterschiedlichen Auffassungen ist das Kleinanlegerschutzgesetz. Damit wurde die kurze Verjährung von einem Jahr mit Wirkung zum 10. Juli 2015 aufgehoben. Stattdessen ist die regelmäßige Verjährung von drei Jahren in Kraft getreten. Da in diesem Gesetz aber eine ansonsten übliche Übergangs­regelung fehlt, ist unklar, ob für Aktionäre, die vor dem 10. Juli 2015 die Aktien erworben haben, die alte oder die neue Frist gilt.

Die Verjährungsfrage ist auch ein Punkt, den das Landgericht Braunschweig dem Oberlandesgericht zur Feststellung vorgelegt hat (LG Braunschweig, Beschluss vom 5. August 2016, Az. 5 OH 62/16, Seite 17).
 

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