Hallo zusammen:
Das Märchen vom Sparbaum
Eine Zukunftsnovelle
Im Jahr 2045 war alles teurer geworden – nicht nur die Milch und das Brot, sondern auch das Leben selbst. Städte glänzten in polierter Künstlichkeit, während unter der Oberfläche Menschen mit altmodischen Idealen kämpften. Eines davon: das Sparen.
Jana saß in einem fensterlosen Co-Work-Wohnmodul der Klasse D – günstig, steril, funktional. Ihr Großvater hatte ihr einst ein kleines Sparbuch geschenkt, als sie sieben war. „Wenn du jeden Monat etwas zur Seite legst, wirst du später keine Sorgen haben“, hatte er gesagt. Ein Satz, der klang wie ein Versprechen. Oder ein Märchen.
Sie hatte ihm geglaubt. Über Jahre hinweg hatte sie diszipliniert gespart. Monat für Monat. Manchmal mehr, manchmal weniger. Keine teuren Urlaube, keine unnötigen Ausgaben. Während andere ihr Leben auf Kredit finanzierten, hatte Jana eiserne Disziplin geübt. Und jetzt, mit 34, war ihr Kontostand... enttäuschend.
Sie rief das digitale Sparbuch auf. 17.243 Credits.
Die Zahl blinkte, als wolle sie sich selbst dafür entschuldigen.
Ein unscheinbarer Avatar – ihr KI-Finanzberater – erschien neben der Summe. „Guten Abend, Jana. Möchten Sie einen Anlagevorschlag? Die Inflation beträgt aktuell 6,8 %.“
Sie wischte den Avatar zur Seite. „Ich hab doch gespart“, murmelte sie. „Was hätte ich noch tun sollen?“
Jana erinnerte sich an die Zeit vor zehn Jahren. Damals hatte sie mit einer Kollegin diskutiert. Mel war anders. Sie sparte nicht – zumindest nicht nur. Sie investierte. In sich selbst, in Projekte, in ETFs, in digitale Vermögenswerte. „Sparen allein ist Stillstand“, hatte Mel gesagt. „Und Stillstand ist in der heutigen Wirtschaft ein Rückschritt.“
Damals hatte Jana das für gefährlich gehalten. „Was, wenn es schiefgeht?“
„Was, wenn du es nicht einmal versuchst?“ war die Antwort gewesen.
Jetzt, zehn Jahre später, wohnte Mel in einem eigenen Modul mit echtem Licht und einem kleinen Balkon. Sie arbeitete freiwillig. Nicht mehr aus Zwang.
Jana stand auf, zog ihren dünnen Mantel über und trat hinaus in den abendlichen Neonregen. Auf den Straßen klebten überall Werbetafeln, die immer noch dieselbe alte Geschichte erzählten:
Zitat„Sparen Sie für Ihre Zukunft. Jeder Credit zählt.“
Aber Jana wusste es jetzt besser. Das größte Märchen war nicht, dass Geld vom Himmel fällt.
Es war, dass Sparen allein reiche.
Sie betrat ein kleines Bildungszentrum für Finanzkompetenz. Kein staatliches Institut, sondern ein gemeinnützig geführtes Projekt. „Finanztip und Forum“ stand auf einem einfachen Schild. Hier ging es nicht nur um Zahlen, sondern um Perspektiven. Und Chancen.
„Ich will lernen“, sagte sie an der Rezeption.
„Was genau?“ fragte die junge Frau am Empfang.
Jana zögerte keine Sekunde. „Alles, was ich über Geld nie gelernt habe.“
Fünf Jahre später war Jana nicht reich – jedenfalls nicht im klassischen Sinn. Aber sie war frei. Sie hatte verstanden, dass Sparen nur der Anfang war. Ein sicherer Hafen – nicht das Ziel. Sie hatte gelernt zu investieren, Risiken abzuwägen, Chancen zu nutzen. Und vor allem: nicht an alten Märchen festzuhalten, wenn sich die Welt längst weitergedreht hatte.
Denn in einer Zeit, in der sich das Geld entwertete, während man schlief, war Nichtstun der wahre Luxus – den sich nur die leisten konnten, die klug genug waren, über das Sparbuch hinauszudenken.
Man stelle sich vollendest Bild vor: Eine verblasste Illustration eines Sparschweins – daneben eine junge Frau, die es zerbricht. Aus den Scherben wächst kein Geldbaum, sondern ein Netzwerk aus Pfaden: Investition, Bildung, Selbstständigkeit, Vermögensaufbau.
LG