Alles anzeigenEin wirklich lesenswerter Beitrag, dennoch greift die Analyse meiner Meinung nach zu kurz, wenn sie die Verantwortung für diesen „Sparzwang“ ausschließlich beim Individuum verortet – als würde die Entscheidung für ETF-Investments eine freiwillige, philosophisch motivierte Lebensweise sein. Tatsächlich ist sie Ausdruck eines systemischen Problems.
Wir befinden uns in einem monetären Umfeld, das strukturell gegen den Sparer arbeitet. Das aktuelle FIAT-Geldsystem – geprägt durch permanente Inflation, den Cantillon-Effekt und wachsender Entwertung von Kaufkraft – sorgt dafür, dass Konsumverzicht und Kapitalbildung nicht zu philosophischen Fragen der Lebensführung, sondern zu schlichten Überlebensstrategien werden. Wer heute nicht vorsorgt, verliert morgen realen Wohlstand.
Hinzu kommt ein Sozialstaat, der seinem Versprechen zunehmend nicht mehr gerecht wird. Politische Fehlentscheidungen, strukturelle Ineffizienz und eine immer weiter ausufernde Bürokratie führen dazu, dass staatliche Rentenmodelle bröckeln – obwohl sie doch eigentlich die Grundlage für gesellschaftliche Sicherheit sein sollten. Anstatt den Ursachen ins Auge zu blicken, wird nun den Bürgerinnen und Bürgern suggeriert, sie müssten „finanziell gebildet“ sein, als sei ihre eigene Nachlässigkeit der Grund für ihre Altersarmut. Das ist nicht nur eine gefährliche Verschiebung der Verantwortung, sondern auch eine subtile Form politischer Ablenkung.
Dass private Vorsorge heute notwendig ist, steht außer Frage. Aber sie ist nicht Ausdruck einer tugendhaften Disziplin oder neuen Weisheit – sondern das Resultat eines dysfunktionalen Systems, das durch strukturelle Geldentwertung, Umverteilung von unten nach oben und staatliches Missmanagement geprägt ist. Insofern ist es geradezu zynisch, wenn „finanzielle Bildung“ zum Maßstab gesellschaftlicher Reife erhoben wird, während gleichzeitig die Ursachen für den Vorsorgedruck weiter wachsen.
Perspektivisch wird sich diese Entwicklung wohl kaum umkehren – denn sie ist systemisch bedingt. Die gegenwärtige Form von Kapitalismus ist auf ständiges Wachstum, Schuldenexpansion und Vermögensinflation angewiesen. In so einem Umfeld ist die private Altersvorsorge keine Tugend – sie ist eine Notwehrmaßnahme. Was wir brauchen, ist nicht nur mehr „philosophische Klarheit“, wie du richtig anmerkst, sondern auch ein Bewusstsein dafür, dass das Problem nicht im individuellen Verhalten liegt, sondern tief in den strukturellen Fehlanreizen des Systems verankert ist.
Die wahre Frage ist also nicht, wie viel Prozent wir vom Nettoeinkommen sparen sollten – sondern warum wir überhaupt gezwungen sind, unser Leben um Renditen herum zu organisieren.
Was ist da eigentlich Ursache und was ist Wirkung?
Die private Alterssicherung bindet jede Menge Kapital (das dem Konsum fehlt) und lenkt die Mittel in Richtung diverser Fnanzverwalter. Die müssen Rendite erwirtschaften. Die Rendite muss irgend jemand erarbeiten.
"Philosophisch" betrachtet zwingt man jetzt jeden, an diesem Spiel teilzunehmen.
Der Arbeiter will jetzt Rendite von einem anderen Arbeiter haben.