Vorsorge als Lebensmodell?
Die neue Finanzpädagogik predigt Disziplin und ETF-Investments. Doch ihr Menschenbild bleibt erstaunlich schmal.
Es ist ein wiederkehrendes Motiv in digitalen Finanzportalen, die sich der Finanzbildung verpflichtet sehen: Junge Menschen sollen mit Beginn der Erwerbsarbeit 15 bis 20 Prozent ihres Nettoeinkommens langfristig sparen – investiert in global streuende ETFs, am besten über 30 bis 40 Jahre. Das klingt pragmatisch, rational und verantwortungsbewusst. Und doch: Es wirft Fragen auf.
Denn was hier propagiert wird, ist mehr als eine Anlagestrategie. Es ist eine Lebensweise. Ein ökonomisch geprägtes Selbstverständnis, das den Menschen zum Projektmanager seiner eigenen Altersvorsorge macht. Sparen wird zur sittlichen Pflicht, langfristige Planung zur Kardinaltugend, der Kapitalmarkt zum Vertrauensanker in einer unsicheren Welt.
Der Kontrast zur philosophischen Tradition ist bemerkenswert. Epikur etwa sah im klugen Umgang mit Bedürfnissen den Schlüssel zur Freiheit – nicht im Anhäufen, sondern im Verzicht. Auch im frühen Buddhismus galt nicht das Sparziel als Weg zum Glück, sondern die Überwindung der Angst vor der Zukunft. Gelassenheit – nicht Absicherung – war das Ziel.
Natürlich ist finanzielle Eigenverantwortung wichtig. In Zeiten bröckelnder Sicherungssysteme und wachsender Altersarmut kann es keine Tugend sein, nichts zu tun. Aber wenn Vorsorge zur zentralen Lebenslogik wird, verliert das Leben an Gegenwart. Dann wird Sparen zur Ersatzreligion: mit ETFs als Heilsversprechen, Disziplin als Glaube, und dem Ruhestand als Paradies – erreichbar durch jahrzehntelange Enthaltsamkeit.
Was fehlt, ist ein Bewusstsein für das Maß. Nicht jede Unsicherheit lässt sich kapitalmarktkonform absichern. Nicht jeder Verzicht ist klug. Und nicht jede Rendite macht frei. Eine reife Finanzbildung sollte nicht nur erklären, wie man investiert, sondern auch fragen, warum – und wofür.
Vielleicht braucht die Debatte um Altersvorsorge weniger Rechenmodelle – und mehr philosophische Klarheit.